DONNERSTAG, 13.50 UHR

Albertz kehrte in die Zentrale zurück und ging zu Friedmann und Müller, die sich die Überwachungsbänder vom Hotel ansahen, auf dem Tisch zwei leere Pizzakartons, zwei Flaschen Cola und Gläser. »Wie weit seid ihr?«

»Zwei Bänder haben wir schon durchlaufen lassen, das heißt, von gestern siebzehn Uhr bis Mitternacht, aber Fehlanzeige. Man kann sehen, wie Bernhard sich in der Lobby aufhält, man sieht ihn an der Bar, an der Rezeption und in der Tiefgarage. Man sieht sogar, wie er in seinen BMW einsteigt, von da an ist kaum noch was zu erkennen, weil die Scheiben getönt sind. Jetzt kommt's - etwa zwei Minuten nachdem er in den Wagen gestiegen ist, ist ein Unbekannter auf der Beifahrerseite eingestiegen. Er blieb dort etwa fünf Minuten und stieg dann wieder aus. Er ist nicht zu erkennen, er wusste offenbar, wo die Kameras installiert sind und wie er sein Gesicht vor ihnen verbirgt. Das Problem ist, dass Jürgens von der Rechtsmedizin nur einen Herzinfarkt diagnostizieren konnte. Keine Stichverletzung, keine Schusswunde, kein Gift. Jetzt schau mal hier: Nachdem der Fremde ausgestiegen ist, geht er um den Wagen rum und wischt den Griff an der Fahrertür ab. Das lässt den Schluss zu, dass Bernhard mit einem Kontaktgift in Berührung gekommen ist, das vermutlich schon nach kurzer Zeit nicht mehr nachweisbar ist.« »Habt ihr Jürgens darauf angesprochen?« »Haben wir, und er hat auch schon zurückgerufen und gemeint, er könne weder an Bernhards Händen noch im Blut irgendetwas feststellen. Er wird noch weitere Untersuchungen durchführen, die jedoch mehrere Tage dauern. Ich habe ihm natürlich unmissverständlich klargemacht, dass er sein Maul halten soll und ausschließlich uns seine Ergebnisse mitteilen darf. Das war doch richtig so, oder?«

»Natürlich, aber ich hoffe doch sehr, dass du deine Worte etwas anders gewählt hast.«

»Ja, ich habe ihm gesagt, dass er mit niemandem darüber sprechen darf und ...«

»Ist ja gut.«

»Ich für meinen Teil bin überzeugt, dass der Mann, der zu Bernhard ins Auto gestiegen ist, auch sein Mörder ist. Der Typ ist gerissen. Selbst die Aufnahmen aus der Lobby zeigen nicht sein Gesicht.«

»Okay, gute Arbeit. Ihr könnt morgen oder übermorgen weitermachen. Jetzt habe ich was anderes für euch zu tun. Ihr kennt ja Henning und Santos. Die beiden stecken ihre Nase in Dinge, die sie nichts angehen, und ich kann unter keinen Umständen Wühlmäuse in unserem Territorium gebrauchen. Kümmert euch um sie.« »Und wie?«, fragte Müller mit ernstem Blick, dem dieser Auftrag nicht ganz geheuer war.

»Kannst du dir das nicht denken? Die müssen von der Bildfläche verschwinden. Sie hatten bereits die offizielle Anweisung, sich aus den Fällen Bruhns und Klein rauszuhalten, aber sie machen trotzdem weiter. Über kurz oder lang werden sie auf uns stoßen, und das ist das Letzte, was wir gebrauchen können.« »Wir sollen sie kaltmachen?«

»Ja. Es muss aber so aussehen, als wären sie in einen Bandenkrieg geraten oder als hätte das Phantom zugeschlagen. Die Spur darf unter gar keinen Umständen zu uns führen. Habt ihr mich verstanden? Zwanzigtausend für jeden von euch, wenn ihr Vollzug melden könnt. Nehmt die Sache nicht auf die leichte Schulter, die beiden sind mit allen Wassern gewaschen. Ich verlasse mich auf euch.«

»Wie viel Zeit haben wir?«

»Spätestens ab morgen Abend sollten sie mir nicht mehr lästig werden können. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?« »Klar doch.«

»Dann bewegt euren Arsch raus hier, fahrt ins Präsidium und macht Drogenfahndung. Dabei lasst ihr euch etwas ganz Besonderes für eure lieben Kollegen vom K 1 einfallen. Sollte ich eine Idee haben, werde ich euch anrufen. Bevor ihr etwas unternehmt, lasst es mich in jedem Fall vorher wissen.« »Sonst noch was?«

»Nein, ihr könnt gehen. Aber wie gesagt, vor einer Aktion will ich informiert werden. Und nehmt diesen Müll mit«, sagte er barsch, deutete auf die Pizzakartons und die Colaflaschen und machte kehrt. Er war unsäglich zornig.

 

Albertz fuhr früh nach Hause. Unterwegs kaufte er einen großen Strauß rote Rosen mit Schleierkraut. Er hatte Roberta in der letzten Zeit vernachlässigt, und er wollte nicht riskieren, dass sie sich über kurz oder lang einen Liebhaber zulegen würde, temperamentvoll, wie sie war. Andererseits hatte er dafür gesorgt, dass, wenn sie ihn betröge, dies bittere Konsequenzen für sie hätte. Schon oft, sehr oft sogar hatte er sie mit körperlichen Mitteln zur Räson bringen müssen, mittlerweile hatte sie wohl verstanden, dass sie ihm bedingungslos zu gehorchen hatte. Er hatte sie aus Brasilien in ein Leben voller Luxus geholt - und er verlangte Gegenleistungen. Wenn sie sich ihm nicht unterwarf, blieb ihm keine andere Wahl, als sie zu züchtigen. Er war kein Weichei, keiner von jenen, die zu Hause kuschten und im Beruf den harten Mann gaben. Er war immer hart und kompromisslos. Aber er war auch großzügig, solange jeder das tat, was er befahl. Als er in die Bismarckallee einbog, sah er ein ihm gut bekanntes Gesicht auf der anderen Straßenseite. Hans Schmidt. Er ging gemäßigten Schrittes den Bürgersteig entlang, den Kopf gesenkt, schien in Gedanken versunken. Ein Spaziergang im trüben und tristen Kiel, das hier in Düsternbrook noch am erträglichsten war. Es war, als bemerkte er Albertz gar nicht, bis dieser kurz hupte, das Fenster herunterließ und ihn ansprach. »Tag, Herr Schmidt«, sagte Albertz mit einem Lächeln, auch wenn er diesen unscheinbaren, etwas kleinkarierten Mann nicht ausstehen konnte. Sicher, er war ein wohlhabender Mann, hatte aber etwas von einem weltfremden Buchhalter, auch wenn ihm drei Restaurants gehörten, die sogar im Guide Michelin und Gault Millau aufgeführt waren. Obwohl Albertz in zwei dieser Restaurants schon gespeist hatte, hatte er Schmidt nie angetroffen. Es gab Geschäftsführer, Köche, doch der Besitzer hielt sich, wie auch bei feierlichen Anlässen und Empfängen, bei Festen und Partys, stets im Hintergrund. Schmidt wirkte stets eher verträumt als mit beiden Beinen auf dem Boden stehend, ein Eigenbrötler, der nur schwer zugänglich war. Eines jedoch beeindruckte Albertz - Schmidts unglaubliche Fähigkeit, alte Bücher auf deren Echtheit hin zu überprüfen. Das aber war das Einzige, was er an ihm bewunderte, den Mann selbst hätte er auf offener Straße nie wahrgenommen, ein Gesicht in der Menge, an dem man achtlos vorüberging. Hier, auf der fast menschenleeren Straße, war selbst dieser farblose Bücherwurm nicht zu übersehen.

Hans Schmidt hob erschrocken den Kopf und sah Albertz an. »Hallo. Verzeihung, ich war mit meinen Gedanken woanders. Wie geht es Ihnen?«, fragte er mit einem entschuldigenden Lächeln, wobei er lediglich die Mundwinkel etwas verzog. »Danke, gut. Und Ihnen?«

»Ich kann nicht klagen«, antwortete Schmidt leise, fast schüchtern.

»Aber wo ich Sie schon hier treffe, Sie haben am Samstag angedeutet, Sie hätten mal wieder etwas für mich, wollten mir aber nicht verraten, was. Vielleicht können wir uns demnächst mal sehen, natürlich ganz unverbindlich.« »Gerne.« Schmidt trat dicht an den Mercedes heran und flüsterte: »Ich wollte am Samstag nicht darüber reden, zu viele Ohren, wenn Sie verstehen. Ich habe einen Swift mit handschriftlichen Anmerkungen, garantiert echt, dafür verbürge ich mich. Ich dachte mir, das wäre was für Sie, da Sie mich ja schon mal vor drei oder vier Jahren auf eine Originalausgabe von Tue travels into several remote nations of the World by Lemuel Gulliver oder auf Deutsch Gullivers Reisen angesprochen haben. Jetzt habe ich eine von einem Klienten aus Edinburgh erhalten. Das Buch stammt aus dem Jahr 1726 und ist offenbar die erste gedruckte Ausgabe dieses Werkes. Swift hat auf vielen Seiten handschriftliche Korrekturen vorgenommen, die in den darauffolgenden Ausgaben übernommen wurden. Das Buch ist hervorragend ausgestattet, der Umschlag besteht aus feinstem grünem Leder und ist in einem Zustand, den man bei einem über zweihundertachtzig Jahre alten Buch niemals erwarten würde, was darauf schließen lässt, dass es die ganze Zeit über äußerst pfleglich behandelt wurde. Mein Klient sagte mir, dass es sich seit zweihundertfünfzig Jahren in Familienbesitz befindet und immer wie ein Schatz behandelt wurde. Man kann förmlich die Zeit riechen, in der es verfasst wurde.« »Quanto costa?«, fragte Albertz mit einem leichten Schmunzeln, denn er witterte ein ganz besonderes Geschäft.

»Nicht ganz billig, das können Sie sich ja vorstellen, aber mein Kunde hat mir einen großen Verhandlungsspielraum eingeräumt, da er in finanziellen Schwierigkeiten ist. Natürlich gibt es eine Untergrenze, unter die ich auf gar keinen Fall gehen kann. Jetzt will ich Sie aber nicht länger aufhalten ...«

»Nein, nein, Sie halten mich nicht auf, Sie wissen doch, dass ich schon lange auf der Suche nach einem Swift bin. Haben Sie das Buch zufällig hier?«, fragte Albertz mit jenem gierigen Funkeln in den Augen, das Schmidt schon ein paarmal bei ihm gesehen hatte, doch nie so ausgeprägt wie jetzt, vor allem da er wusste, wer Albertz wirklich war.

»Ich muss es aus dem Banktresor holen. Es würde ungefähr eine halbe Stunde dauern.«

»Gut, dann kommen Sie doch in einer halben Stunde vorbei. Ich sage meiner Frau, dass sie uns Kaffee und Gebäck servieren soll, und dabei habe ich dann genug Gelegenheit, mir den Swift anzusehen.«

»Sie werden es nicht bereuen. In einer halben Stunde. Ich habe übrigens noch einen zweiten Swift von meinem Klienten, A Modest Proposal. Möglicherweise interessiert Sie das ja auch.«

»Selbstverständlich«, stieß Albertz hervor. »Auch ein Original?«

»Herr Albertz, ich verkaufe nur Originale, wie Sie doch auch in Ihren Galerien. Ich persönlich würde A Modest Proposal sogar noch als etwas wertvoller einstufen, aber Sie sollten sich selbst ein Bild davon machen, Sie sind ja ein Kenner.«

»Bringen Sie's mit. Ich bin sehr gespannt.« Schmidt ging nach Hause und steckte zwei gut verpackte Bücher in eine braune Lederaktentasche, die er vor zwanzig Jahren von Sarah Schumann zu seinem Geburtstag geschenkt bekommen hatte, ein sehr wertvolles Stück, das er wie seinen Augapfel hütete.

Er wartete noch ein paar Minuten, legte ein dezentes Eau de Toilette auf, das seine Unscheinbarkeit noch unterstrich, bürstete sich noch einmal durchs Haar, überprüfte seine Waffe, zog seine Jacke wieder an und machte sich auf den Weg zu Albertz. Es würde ihre letzte Begegnung sein, es würden überhaupt der letzte Tag, die letzten Stunden oder auch nur Minuten für Albertz sein.

 

Eisige Naehe
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